Dino

Die Lüge ist dort, wo ich nicht bin. Sie wird geglaubt, wo ich nicht bin, und sie ist wahr, wo  ich nicht bin. Ich kann ja nicht dort sein, wo ich nicht bin, also kann ich nicht sehen, wo ich  nicht bin. Dann muss ich glauben, dann kann ich mich täuschen.

Der Wind weht harsch durch die Lande und die Kommentarspalten, und das Netz googlet  mir vor, dass ich gebildet bin, dass ich erlebe, was ich weiß. Die Scrollbar weist den Weg in  die Finsternis: Sie kommen und lügen, sie brandschatzen und sind voll von Gewalt, sie  poltern und schreien und wollen alle nur Geld.

Ich sage doch gar nicht, dass alles gut ist. Aber es ist warm in meinem Heim und in meinem  Hasenherzchen, und was ich auch lese, es findet sich immer ein Plätzchen für mich. Wenn  auch manchmal nur zwischen den Zeilen.

Man geht ins Kabarett, weil man fühlen möchte, dass man zu den Guten gehört, den Klugen, den Weitsichtigen. Man möchte bestätigend nicken und ab und zu merken, dass etwas weh  tut, und das ist nicht nur der geschundene Rücken oder die geknickten Beine oder der offene Arsch auf holzigen Sitzen. Wundert es jemanden, dass beim belanglosen Umtrunk nach der  Vorstellung ein Lehrer zwischen mir und dem Kabarettisten sitzt? Ist das zu viel Klischee? Der Kabarettist ist ein Freund aus den Neunzigern, den bunten, leichten, freien Neunzigern,  ein Freund ist er aus den Tagen des Endes der Geschichte. Sein Ort ist die Bühne, meiner  der Stuhl am Schreibtisch.
„Der Protektionismus“, sagt er, „und diese vermaledeite Nationalstaatlerei. Ein Trauerspiel.  Wir reden uns den Mund fusselig und sehen einen, der einen Schritt nach vorne geht,  während drei andere drei Schritte zurück tun.“
„Seit 30 Jahren unterrichte ich Deutsch und Geschichte.“, sagt der Lehrer und schluckt  etwas Wein. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich mir in meinem Leben Sorgen machen müsste, dass die Rechten wieder kommen. Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“
„Sie waren nie weg!“, sagt der Kabarettist und bestellt ein Wasser.
„Ich möchte keine Leitkultur diskutieren oder über abstruse Definitionen von Heimat  sprechen.“, sage ich. Ich schüttle mich.
„Wir reden uns den Mund fusselig.“, sagt der Kabarettist. „Alles teils-teils.“
„Was fehlt, ist eine Vision!“, sagt der Lehrer.
„Materialermüdung durch den Krümmungsgrad einer Salatgurke.“ sage ich.
„Damit kann  man Europa madig machen. Durch Unsinn dem Sinnvollen den Sinn nehmen.“
„Was fehlt, ist ein Visionär!“, sagt der Lehrer.
„Was fehlt, ist ein Führer?“, grinse ich.
„Um Himmels willen!“, brüllt der Lehrer.
„Grenzen. Mauern. Zäune.“, sagt der Kabarettist. „Floskeln. Klischees. Eine überbordende  Metaphorik, dass mir schlecht wird.“
„Es ist, als hätten alle den Verstand verloren.“, zitiere ich den Mey.
„Die Zeiten stinken, und die Dichter schweigen!“, zitiert der Kabarettist den Wecker.

Dann muss ich fast ein bisschen weinen, und dann denke ich an Dino. Dann wird alles  einfach, und dann wird alles leicht, und dann stehe ich im Red Lion in Kilkenny, County  Kilkenny, Republik Irland, ich stehe am Tresen, stehe allein, ich sehe mich und mein Glas  im Spiegel hinter den Spirituosen, ich bin jung, bin Mitte 20, mein Haar ist blond und fast  lang, mir klebt Bier im Bart, fast lauwarmes Bier, ich wische mir mit dem Ärmel den Mund  ab und denke an Birne und die Queen, denke an die Krawallnacht in Galway, an  maulbrütende Buntbarsche im Victoriasee und an den Wind auf den Cliffs of Moher, ich  denke an stille Katholiken und laute Protestanten, an Revolutionen in Wintermänteln und  Titten und Ärsche in knappen Bikinis, ich denke an Dublin im Regen, und ich denke an  Barrikaden und Backsteine und das Belfast Child, und ich denke und schweife und springe  im Rauch des Pubs mit meinem Gedankenäffchen durch die Gedankengänge und suche den  Reisepass in meinem Kopf, und dann steht ein Mann neben mir, ein Dumbledore, ein  Merlin, ein Vadder Abraham steht neben mir, steht da, wo eben noch niemand stand, und  fragt mich, warum ich denn alleine sei.

Ich reise, sage ich. Ich reise, um das Land kennen zu lernen.
Niemand dürfe auf Reisen allein am Tresen stehen, sagt er. Sein Name sei Dino, und ich  solle mich zu ihm und seinen Freunden setzen, sagt er. Man lerne kein Land kennen, sagt er, wenn man nicht die Menschen kennenlerne.
„Pleased to meet you.“, sage ich und schüttle seine Hand. „Hope you guess my name.“
Er lacht, deutet mit dem Arm in Richtung eines Tisches in der Ecke, sagt „These are my  friends!“ und fordert mich auf, ihm zu folgen.
Rauchende Männer sitzen da und trinkende Frauen, heiter sind sie allesamt, vielleicht vom  Alkohol, vielleicht von der schwerelosen Nacht, vielleicht von den Geschichten, die ihre  Augen sich erzählen, sie rücken etwas dichter zusammen, damit ich mich setzen kann, ich  nicke leise zur Begrüßung und nehme Platz neben Dino, der mich am Tisch als „a new  friend“ vorstellt.
Ein lautes Hooray! schwebt über den Tisch, Neugierde hängt in der Luft, jemand fragt mich, ob Salat auf ein gutes Sandwich gehöre, einer will wissen, ob Jimmy seinen Laden morgen  später öffnen solle, eine rothaarige Frau findet die Sommersprossen auf meiner Nase so süß, wir plaudern belanglos und herzlich, ich fühle mich willkommen und möchte mir eine  Zigarette drehen, aber Dino legt seine Hand auf meinen Tabak. „Keep it.“, sagt er. „You  might need it tomorrow.“
Diese Nacht, sagt er, und dieser Platz gehöre uns allen, und ich sei sein Gast, seine  Zigaretten seien meine und seine Freunde seien meine. Und ich kann es gar nicht fassen,  kann diese Selbstverständlichkeit nicht fassen und suche den Haken an der Sache.
„Just one thing!“, merkt er an, als die nächste Runde Bier auf den Tisch gestellt wird und er  ein Glas zu mir schiebt, und da ist er schon, der Haken, denke ich, jetzt kommt’s, denke ich  und sehe mich schon auf Knien im Keller, umgeben von Menschen in Leder, die seltsame  Handlungen an mir vornehmen.
„You have to sing a song for us!“, befiehlt Dino. Freundlich befiehlt er das, aber ich sehe  dem Tisch an, dass es ihm ernst ist.
„A song?“, frage ich.
„A song!“

Welchen Song singt man im Red Lion in Kilkenny, County Kilkenny, Republik Irland, wenn man jungspundig das Land bereist und in einer Gruppe von irischen Männern und Frauen  sitzt, mit einer geschenkten Zigarette in der Hand und einem Glas Bier, das nur eine Strophe und einen Refrain entfernt vor einem steht? Welchen Song singt man nur?
„Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei. Bis hier hör‘ ich die Motoren.“, singe ich. Meine  Stimme zittert, aber ich bin tapfer, auch wenn ich verwunderte Gesichter sehe. Vielleicht  haben sie ja mit Whiskey in the jar gerechnet, denkt irgendwas in mir, aber egal. „Wie ein  Pfeil zieht sie vorbei, und es dröhnt in meinen Ohren.“
Die Mundwinkel am Tisch heben sich, die Ohren öffnen sich. Und Dino lacht. Natürlich lacht Dino. Ich singe die erste Strophe und den Refrain, dann lehne ich mich zurück und lasse mich  feiern. Es wird applaudiert. Man ist stolz. Ich gehöre endgültig hierher, ich gehöre endgültig dazu.

Dino drückt mir ein Pint in die Hand. „Well done!“, schulterklopft er stolz. „But that’s  german, I think. It sounds german. How come you sing a german song?“
„Because I am German.“, sage ich.
„You’re from Germany? I thought you were American. You sound American to me.“
„I try not to sound German, you know.“, sage ich. „Because of, well, you know, the past.“
„Yah, you really fucked things up!“, sagt er. „I mean, ze Germans really fucked it up!“
„I know.“ murmle ich und starre blind in mein Bier. „But not you!“, sagt Dino.
Ich blicke auf. Erstaunlich weiße Zähne lächeln breit durch seinen grauen Bart. „Not you!“, sagt er noch einmal. „Thou shalt not forget the past!“, blickt er brummend in  die Runde und endet sanft in meinen Augen. „But don’t feel guilty, son, it’s not your fault!“ Er hebt sein Glas und nickt mir zu. „Make it better.“, sagt Dino leise. „Just make things better.“

Dann muss ich fast ein bisschen weinen, und dann ist da kein Rauch mehr in der Luft und  kein lautes Lachen, und dann sitze ich wieder mit dem Kabarettisten und dem Lehrer  zusammen, und was eben noch leicht war, ist immer noch leicht, und dann sehe ich in  fragende Gesichter.
„Ist alles gut?“, fragt der Kabarettist.
„Du warst kurz abwesend, scheint mir.“, sagt der Lehrer.
„Ich möchte glauben,“, sage ich, „dass die meisten Menschen gute Menschen sind. Und dass wir zusammen besser dran sind.“

Die Lüge ist dort, wo ich nicht bin. Ich sage auch nicht, dass alles gut ist. Ein Kabarettist  steht auf der Bühne, ein Lehrer vor der Klasse und ein Dichter sitzt am Schreibtisch. Just make things better. Jemand hat angefangen, und wir müssen weitermachen.